Versuchen die gesetzlichen Krankenkassen, ihren Versicherten Therapiemöglichkeiten auszureden? Unsere Recherche legt das zumindest nahe. Dabei geht es um ganz bestimmte Therapien.
Berlin – In Deutschland haben die gesetzlichen Krankenkassen viel Macht, und viel Verantwortung. Denn die rund 73 Millionen Menschen im Land, die bei einer der gesetzlichen Kassen versichert sind, sollen durch ihre Kasse versorgt werden, mit allem, was Mediziner für richtig halten. Dafür zahlen die Versicherten schließlich auch recht hohe Beiträge.
Doch eine aktuelle Recherche von IPPEN.MEDIA zeigt nun, dass zumindest einige der Krankenkassen diese Pflicht nicht immer so ernst nehmen, wie erhofft. Statt verordnete Therapien zu übernehmen, werden Patienten verunsichert und zum Teil mit Falschinformationen versorgt. Das belegen unter anderem auch Briefe der Kassen an ihre Versicherten, die wir für diese Recherche sehen konnten. Vermutlich geht es den Kassen darum, Geld zu sparen.
DiGA-Rezepte sind von rechtswidrigem Verhalten betroffen
Bei den verweigerten Rezepten geht es immer um die gleiche Kind der Therapie, nämlich um die Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA). Seit 2020 können Ärzte und Ärztinnen sogenannte „Apps auf Rezept“ ausstellen. Das ist genau das, wonach es klingt: Eine App, die zur Unterstützung einer Therapie verschrieben wird. Diese Anwendungen werden in einem rigorosen Prozess vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen. Der Prozess dauert in der Regel mehrere Jahre und beinhaltet unter anderem die Durchführung klinischer Studien, die nachweisen müssen, dass das Produkt effektiv ist. Aktuell sind 55 DiGAs vom BfArM in Deutschland zugelassen.
Eine der Herstellerinnen einer solchen App ist Katharina Trotha. Gemeinsam mit Prof. Dr. Pia Wülfing, die seit über 20 Jahren auf das Thema Brustkrebs spezialisiert ist, hat sie die Anwendung „PINK! Coach“ auf den Markt gebracht. Die DiGA wird Frauen verschrieben, die Brustkrebs haben. „Es ist eine digitale Lösung zur Begleitung bei Brustkrebs. Professorin Wülfing hat in der Klinik immer wieder festgestellt, wie viel Unsicherheit bei den Patientinnen im Umgang mit der Erkrankung besteht und wie wenig Zeit im Klinik- und Praxisalltag für die vielen Fragen der Patientinnen bleibt“, erklärt Trotha im Interview. Additionally haben sie „PINK! Coach“ ins Leben gerufen, um viele der immer wiederkehrenden Fragen zu beantworten und die Patientinnen in der Therapie und der Nachsorge zu begleiten.
„Wir sind wirklich überrascht, wie die Krankenkassen bei diesem Thema immer wieder gezielte Falschinformationen verbreiten“, berichtet Katharina Trotha. Um die App „PINK! Coach“ zu verschreiben, gebe es ganz wenige und auch klare Regeln: Die Versicherte muss volljährig sein, und bei ihr muss Brustkrebs diagnostiziert worden sein. „Es ist wirklich sonnenklar“, so die Geschäftsführerin.
Das sehen die Kassen aber wohl anders. So erreichen „PINK!“ immer wieder Meldungen von Patientinnen, die sagen, ihre Kasse würde die Leistung nicht übernehmen. Die Begründungen seien oft ähnlich: Mal wird auf vermeintliche Fristen hingewiesen, die angeblich eine (Neu-)Verschreibung nicht möglich machen; mal wird auf andere Apps verwiesen, die die Kasse bevorzugen würde. All das ist rechtswidrig.
Briefe an Ärzte und Versicherte untergraben die DiGAs
Philip Heimann ist einer der Unternehmer, der auf das Verhalten der Kassen aufmerksam machen will. Er ist Gründer und Geschäftsführer der DiGA „Vivira“, die bei Rückenschmerzen verschrieben werden kann. Er kann auf Anhieb quick 30 verschiedene Fälle vorlegen, in denen Kassen versuchen, Patienten den Zugang zu seiner App trotz ärztlicher Verordnung zu verwehren. Und damit machen sie es DiGA-Unternehmen schwerer, erfolgreich zu werden.
In mehreren Fällen schrieben die Krankenkassen aber auch an die behandelnden Ärzte: Um die Kosten für die DiGA zu übernehmen, bräuchten sie erst „eine ausführliche medizinische Begründung“ und/oder eine „Befund- und Verlaufskontrolle“. Solche Briefe hat die Redaktion selbst gesehen. „Das Verhalten der Krankenkassen ist rechtswidrig. Es erschwert Patienten den Therapiezugang erheblich, untergräbt die ärztliche Therapiehoheit und generiert unnötigen Verwaltungsaufwand in den Praxen. Ärzte und Patienten sollten das nicht akzeptieren“, sagt Heimann.
In einem anderen Fall schreibt die Kasse einer Patientin: „Sie nutzen bereits die DiGA „Companion Patella“ für Krankheiten des Muskel-Skelett-Programs. Die gleichzeitige Nutzung von zwei oder mehr DiGA für dieselbe Indikationsgruppe ist nicht vorgesehen“. Die Aussage der Kasse ist falsch – es gibt keine Begrenzung zur Nutzung mehrerer DiGA. In einem anderen Fall schreibt die Kasse einer Patientin, das Rezept sei „zu früh“ ausgestellt worden und könne deshalb nicht genehmigt werden. Auch dies ist eine Falschaussage – ein DiGA-Rezept kann nicht „zu früh“ ausgestellt werden.
„Das Verhalten einiger Krankenkassen ist alarmierend“, sagt Heimann. „DiGA wie Vivira bieten in unserem durch Fachkräftemangel und enorme Wartezeiten geprägten Gesundheitswesen eine Lösung, um aus der Gesundheitsversorgung ausgeschlossene Menschen schnell und wirksam in Therapie zu bringen. Doch einige Krankenkassen legen dem technischen Fortschritt und der besseren Versorgung ihrer Versicherten lieber Steine in den Weg. Das frustriert die Menschen enorm, vollkommen zurecht.“
Stellungnahme der Krankenkassen, Reaktion der Aufsichtsbehörde
Mutmaßlich geht es den Krankenkassen hier um die Kosten. Ein Rezept für die Anwendungen gilt in der Regel für 90 Tage. So lange haben Patienten und Patientinnen Zugriff auf die App. Danach ist ein Folgerezept nötig. Genauso wie bei allen anderen verschreibungspflichtigen Medikamenten entscheiden Ärzte und Ärztinnen, wann und ob das notwendig ist. Was eine DiGA für 90 Tage kostet, ist online abrufbar. Die Preise variieren zwischen 200 und 500 Euro. Je nachdem, womit man das vergleicht (z. B. mit einer Physiotherapie, einer Psychotherapie oder einer Ernährungsberatung) würden die Kosten vermutlich für die traditionelle Therapieform höher liegen. Aber nicht immer.
Um Stellungnahme haben wir drei Krankenkassen gebeten, die laut DiGA-Unternehmen immer wieder negativ auffallen. Die Aufsichtsbehörde der Kassen, das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS), schreibt aber auf Anfrage, dass aus ihrer Sicht alle Kassen in gleichem Maße zu Fehlverhalten neigen – weshalb sie sich am 16. Juni 2023 in einem Rundbrief an die von ihr beaufsichtigten Kassen wandte. Dabei wies das BAS auf die Pflichten der Kassen hin.
Die IKK basic schreibt, dass die Kasse seit Erhalten des Rundbriefes weiß, dass sie nicht auf andere DiGAs umsteuern dürften. „Diese Vorgaben der Aufsichtsbehörde setzt die IKK basic im Rahmen der Antragsbearbeitung vollumfänglich um“, so eine Sprecherin. Professional Woche erhalte die Kasse aktuell rund 200 DiGA-Rezepte.
Der AOK-Bundesverband schreibt, dass sie mit ihren Versicherten „gemeinsam die passende DiGA oder ein geeignetes Angebot der Krankenkasse“ finden möchte. Zur Einordnung: Das sollen die Krankenkassen in der Regel nicht. Denn in die Therapiehoheit des Arztes darf die Kasse nicht eingreifen.
Kassen geben zu, dass sie andere Apps anbieten
Alle angefragten Kassen geben zu, dass sie bei der Bearbeitung der DiGA-Rezepte auf andere Angebote hinweisen – obwohl auch das nicht erlaubt ist. Die AOK sagt, diese seien zum Teil „mit den Inhalten einer DiGA vergleichbar“. Auch hier zur Einordnung: digitale Angebote der Krankenkassen haben nicht immer auch dieselben Schritte zur Genehmigung durchlaufen, wie vom BfArM zugelassene DiGAs.
Zur Frage, warum Patienten auch andere Apps vorgeschlagen werden, als die ärztlich verordnete DiGA, sagt auch die TK, dass sie damit ihrem Auftrag zur Beratung der Versicherten gerecht werde. „Eine Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit oder eine Beschränkung der Wahlfreiheit der Versicherten ist mit diesen Maßnahmen weder beabsichtigt noch zulässig“, sagt die Kasse aber auch.
Die TK fügt aber noch hinzu, dass sie die Einführung von DiGAs in die Regelversorgung begrüßt. „DiGA sind eine neuartige, digitale Kind der Gesundheitsversorgung, die auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes von Patientinnen und Patienten zielen. Natürlich setzen wir uns nun auch dafür ein, die neue Leistungsart weiterzuentwickeln und weiterführende Studien zu fördern, um einen hohen Qualitätsanspruch und Nutzen für die Versicherten zu gewährleisten,“ so die TK-Sprecherin.